Wenn Sprachen sterben: Brüder Humboldt
Alexander von Humboldt (1769-1859)
Alexander von Humboldt erlangte bereits zu seinen Lebzeiten Weltruhm als Naturwissen-schaftler und Entdeckungsreisender. Außerhalb Europas, etwa in Lateinamerika, wird er zudem auch für seinen Respekt für nichteuropäische Kulturen sowie seine Kritik am Kolonialismus geschätzt. In seinem ganzheitlichen Verständnis waren die Erscheinungs-formen menschlicher Kultur selbstverständlicher Teil der natürlichen Welt. Das sensibilisierte ihn auch für Fragen sprachlicher Diversität.

Eduard Ender: "Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland" (Berlin, Akademie der Wissenschaften)
Im südamerikanischen Regenwald
Im Jahr 1800 erkundete Alexander von Humboldt den Oberlauf des Orinoko, um festzustellen, ob dessen Flusssystem mit dem noch riesigeren des Amazonas in Verbindung stand. Während dieser Reise kam es bei den Wasserfällen von Maipures zu einem Zusammentreffen mit dem Volk der Guareca, die Folgendes zu berichten wussten:
Es geht die Sage unter den Guareca-Indianern, die tapferen Aturer haben sich, von menschenfressenden Kariben bedrängt, auf die Klippen der Katarakten gerettet; ein trauriger Wohnsitz, in welchem der bedrängte Völkerstamm und mit ihm seine Sprache unterging. In dem unzugänglichsten Teile des Raudals befinden sich ähnliche Grüfte; ja es ist wahrscheinlich, daß die letzte Familie der Aturer spät erst ausgestorben sei. Denn in Maipures (ein sonderbares Faktum) lebt noch ein alter Papagei, von dem die Eingeborenen behaupten, daß man ihn darum nicht verstehe, weil er die Sprache der Aturer rede. (Ansichten der Natur, 1808)
Was ging mit der Sprache der Aturer verloren?
Humboldt hat den Papagei nicht selbst gesehen. Auch die letzten Klänge der Sprache der Aturer sind verschollen. Es gibt jedoch ein indirektes Echo in der Installation "Maypore" der amerikanischen Performance-Künstlerin Rachel Berwick. Zwei Amazonas-Papageien, die miteinander "sprechen", sollen an die tote Sprache erinnern.
Wilhelm von Humboldt (1767-1836)
Wilhelm von Humboldt verfasste als Privatgelehrter wichtige Beiträge zur Altertumskunde, Kulturanthropologie, Staatstheorie, Pädagogik und Sprachwissenschaft. In der Öffentlichkeit wirkte er unter anderem als Diplomat im Dienste des preußischen Königs in schwierigen Zeiten (Napoleonische Kriege, Wiener Kongress) sowie als Bildungspolitiker.
Anders als sein jüngerer Bruder veröffentlichte er nur wenig zu Lebzeiten, und sein Ruhm entfaltete sich erst nach seinem Tod. In der heutigen Sprachwissenschaft wird er als Ideengeber in der Theoriediskussion, als Pionier bei der Erforschung außereuropäischer Sprachen und des Baskischen geschätzt, einer nichtindoeuropäischen Minderheitensprache, deren baldiges Aussterben er befürchtete, die sich jedoch bis ins 21. Jahrundert erhalten hat.
Welche Lücken das Verschwinden von Sprachen hinterlassen kann, deutet Wilhelm von Humboldt an vielen Stellen in seinem Werk an. Hier ein Beispiel:
Das Studium der Sprachen des Erdbodens ist also die Weltgeschichte der Gedanken und Empfindungen der Menschheit. Sie schildert den Menschen unter allen Zonen, und in allen Stufen seiner Cultur; in ihr darf nichts fehlen, weil alles, was den Menschen betrifft, den Menschen gleich nahe angeht. (WvH, V: 111)
Quellen: Zitat WvH, Darmstädter Werkausgabe in fünf Bänden (eds. Flitner & Giel)
Zum Nachdenken: noch einmal AvH
Kurz vor der Abreise aus Maipures kommt es noch zu einem Missverständnis bei der Feldforschung, wie in Ansichten der Natur (1808) zu lesen ist:
Wir verließen die Höhle bei einbrechender Nacht, nachdem wir mehrere Schädel und das vollständige Skelett eines bejahrten Mannes, zum größten Ärgernis unsrer indianischen Führer, gesammelt hatten. Einer dieser Schädel ist von Blumenbach in seinem vortrefflichen kraniologischen Werke abgebildet worden. Das Skelett selbst aber ging, wie ein großer Teil unsrer Naturaliensammlungen, besonders der entomologischen, in einem Schiffbruch verloren, welcher an der afrikanischen Küste unserem Freunde und ehemaligen Reisegefährten, dem jungen Franziskanermönche Juan Gonzalez, das Leben kostete.